01. 11. 2018 - 30. 11. 2018, 15:00 - LITOMĚŘICE/ VELKÁ MLÝNSKÁ/ TYRŠŮV MOST
Renée Renard/ Ein Weg wie hundert Leben/ LITOMĚŘICE
Ein Weg wie hundert Leben
„Ein Weg wie hundert Leben“ ist die Geschichte meiner französisch-deutschen
Familie aus Lothringen und dem Schwarzwald des XVIII. Jahrhunderts. Der
Entschluss, unsere Familiengeschichte zu erforschen, gab mir schließlich den
Mut, die kleine alte Holzschachtel zu öffnen, in der meine Großmutter die
wenigen übrig gebliebenen Photos, Dokumente und Briefe aufbewahrte. Dabei
überwältigte mich die späte Erkenntnis dessen, was wirklich „Trennung“,
„Heimweh“, „Entwurzelung“ bedeutet – die Deportation der Großeltern nach
Russland, der Urgroßeltern in den Bărăgan, des Vaters an den Donau-Kanal
– das gespaltene Dasein, das die GESCHICHTE ihrem Leben aufgezwungen
hatte. Auch erkannte ich ebenso tiefgründig, dass man „nach Hause“ zurückkehren
kann, auch wenn da kein Haus mehr steht; dass die Kraft des Glaubens
und das Überleben des Geistes einen retten, auch wenn die Geschichte einem
dazu scheinbar keine Chance lässt. Über meinen Großvater Renard Ioan
Nicolae wusste ich fast gar nichts. Ich hatte nur ein Foto und ein Gerichtsurteil , dass
seinen Tod am 24.01.1946 im Arbeitslager Nr.1651 in Ufalo/Russland erklärte.
Eines Morgens, als ich an meinem Projekt arbeitete, dachte ich wieder an ihn.
Dass er, obwohl französischer Abstammung, wahrscheinlich durch einen Fehler
auf die Liste der 68.000 Personen deutscher Herkunft, die im Januar 1945
nach Russland deportiert wurden, kam. Und dass er wahrscheinlich den Tod
von lauter Hunger, Kälte und Erschöpfung fand.
Plötzlich, mitten in meinen Gedanken, schlug ein Vogel mit voller Kraft gegen
das Fenster. Das hatte ich noch nie erlebt, und ich frage mich ob es wirklich
wahr sei, dass Vögel die Boten des Himmels wären. Am selben Abend erhielt
ich völlig unerwartet und unverhofft Informationen über meinen Großvater:
Fotos aus seiner Kindheit, Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit …
und die Nachricht, dass er damals im Lager aus lauter Verzweiflung Selbstmord
begangen hatte.
Die Heimat weit entfernt
Februar 1945: der Vertrag von Jalta, der Rumänien unter sowjetischen Einfluss
stellte, veränderte dramatisch den Lauf der Geschichte und das Schicksal vieler
Familien. Im Januar 1945, im Alter von 35 Jahren, wurde mein Großvater
mütterlicherseits zusammen mit seinen Geschwistern und mit anderen 68.000
Personen nach Russland deportiert. Ein paar Tage nach seinem 43. Geburtstag
beging mein Großvater väterlicherseits Selbstmord im Arbeitslager Nr.1651 in
Ufalo/Russland. Im Jahr 1951 waren mein Ur-Großvater 68 und meine Ur-Großmutter
66 Jahre alt, als sie zusammen mit 40.320 anderen Personen in den
Bărăgan deportiert wurden. Sie wohnten in einer Grube, die sie sich in den
Boden gegraben hatten. Mit 18 wurde mein Vater zu vier Jahren Zwangsarbeit
am Donau-Schwarzmeer-Kanal verurteilt, wo fast 100.000 andere Personen
jahrelang unter schwer vorstellbaren Bedingungen arbeiten mussten. Als sie
19 Jahre alt war, wurde meine Mutter, wie viele andere Studenten in dieser
Zeit, von der Hochschule relegiert. Lebensgeschichten, die man in einem einzigen
Atemzug erzählt … aber ein Atemzug so schwer wie die ganze Welt …
oder so tief wie der endlose Wald, in dem man seine Wurzeln nicht mehr fühlen
und den Himmel nicht sehen kann.
Lebewohl. Für immer.
Triebswetter, 18. März 1955.
Meine Großmutter Aurelia Prinz nimmt Abschied von ihrem Vater, Dominic
Haman. Nach vier Jahren Deportation in den Bărăgan, von Haus, Fabrik und
Land enteignet, waren meine Urgroßeltern gezwungen, Rumänien für immer
zu verlassen. Obwohl mein Urgroßvater noch bis 1964 lebte, wurde es meiner
Großmutter nie mehr erlaubt, ihn wiederzusehen.
Aus Russland, mit Liebe
Meine Großmutter bewahrte mit großer Sorgfalt alle Briefe aus der Russlandgefangenschaft
meines Großvaters in einer kleinen Holzschachtel mit einem bemalten
Deckel auf. Für mich war es sehr schwer zu entscheiden, ob ich die Briefe
lesen oder lieber für immer dort eingeschlossen lassen sollte. Ich fand den Abschiedsbrief
meines Großvaters, den er in großer Eile am Tag seiner Deportation
nach Russland schrieb; Postkarten in denen die Tinte längst verblasst war, aber
die Farbe des Stempelabdrucks „ZENSIERT“ die gleiche Intensität wie am ersten
Tag behielt; ein Foto aus dem Lager, auf dem nur noch die Augen meines einst
so hübschen Grossvater lebendig waren; Briefe auf einem so dünnen Papier
geschrieben, dass die Buchstaben von der anderen Seite durchscheinen und
auf und eine neue, fast unverständliche Schrift bildeten; kleine aneinandergenähte,
eng beschriebene Papierstückchen, damit mehr Gedanken ihren Weg zu
meiner Großmutter finden konnten. Ich erfuhr, dass „Škoro Domo“ auf Russisch
„bald nach Hause gehen“ bedeutet und diese zwei Worte immer wieder ausgesprochen
wurden, in der Hoffnung, dass sie eines Tages wirklich wahr werden.
Und ich verstand, ein Blatt Papier zu finden, um nach Hause zu schreiben, kann
unter bestimmten Umständen das Schwerste im Leben sein.
Renée Renard E-Mail: reneejeanette@yahoo.com
Blog: http://reneerenard-art.blogspot.ro/
Studium: Veterinärmedizinische Fakultät (1992); Postgraduiertenstudium an
der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften (2003); Lizenziat in Multimedia-
Design (2008) und Magister in Werbungs- und Buchgrafik (2010) an der
Fakultät für Kunst und Design Timișoara/ Rumänien.
Das künstlerische Schaffen von Renée Renard wird von zwei Hauptthemen gekennzeichnet:
die Konvergenz zwischen Kunst und Wissenschaft und die Gedächtnisforschung
und -interpretation. Das Projekt „Bilder zu Teodora Enaches
Musik“, eine fotografische Verarbeitung eines sensoriellen Phänomens (Synästhesie)
wurde in den Cărturești-Gallerien Timișoara (2008) und Cluj-Napoca
(2009) sowie als Szenografie für Theodora Enaches Jazzkonzert im Kunstmuseum
Cluj-Napoca (2009) vorgestellt. Das Projekt „Wasserflügel“ (Unterwasserphotographie
und -video) wurde in der Galerie Helios Timișoara (2010) und
am Sitz der World Bank Bukarest (2011) ausgestellt. Ab dem Jahr 2010 widmet
Renard sich der Analyse und Interpretation der persönlichen Erinnerungen und
der Familiengeschichte im breiteren Kontext der Geschichte des Banats. Das
Projekt „Ein Weg wie hundert Leben“ (Dokumente und Fotos aus dem Familienarchiv,
Photographie, digitale Verarbeitung, Video, Installation) wurde in der
Helios-Galerie in Timișoara (2013), beim Sarajevo -Friedensfestival / BIH (2014), im
Stefan-Jäger-Museum in Jimbolia (2015), Friedrich-Teutsch-Haus in Sibiu (2015),
Kunstmuseum Arad (2016) und Kunstmuseum Satu Mare (2017) ausgestellt.
Im Rahmen dieser Ausstellungen gab es Workshops mit Schülern über ihre
Familiengeschichte (über 500 Teilnehmer).
Renée Renard nahm in den letzten acht Jahren an über 60 lokalen, nationalen
und internationalen Gruppenausstellungen teil (Frankreich, Deutschland,
Belgien, Portugal, Griechenland, USA, Israel, China, Ungarn, Serbien, Litauen).
Sie erhielt im Jahr 2013 den Murano-Preis für Design (fusioniertes Glas) von der
Scuola del Vetro Abate Zanetti in Murano/Italien und im Jahr 2016 den Preis
der Gemeinde Portet sur Garonne/Frankreich bei der Triennale Européenne de
l‘Estampe Contemporaine.
Renée Renard ist Mitglied des Verbandes der bildenden Künstler aus Timișoara,
Abteilung Multimedia und Vizepräsidentin des Vereins Diplomatic Art.
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